„Emmely and friends“: Kündigung eines Anstellungsverhältnisses aufgrund von durch Arbeitnehmer begangenen „Bagatelldelikten“
Arbeitsrechtlicher Vortrag von Rechtsanwalt Thomas Lemke am 05.08.2010
Vortrag zur Kündigung eines Anstellungsverhältnisses
aufgrund von durch Arbeitnehmer begangenen „Bagatelldelikten"
„Emmely and friends"
05. August 2010
I. Einführung
Seit geraumer Zeit findet ein Detailproblem des Arbeitsrechts in den Medien immer wieder große Aufmerksamkeit. Es geht um sog. Bagatellkündigungen.
Vor wenigen Wochen war wieder einmal die Boulevardpresse voll mit teilweise unterschiedlichen Sachverhalten im Rahmen der Bagatellkündigung auch bezogen auf den Verdacht eines Straftatbestandes durch die Kassiererin Emmely, wobei in den allerwenigsten Fällen von einer detaillierten, abgewogenen Berichterstattung ausgegangen werden konnte, sondern - je nach Presseorgan - vielmehr von Klamauk, Stimmungsmache, Verdrehung von Tatsachen und Vermischung von Tatbeständen, die miteinander nichts zu tun haben, und das teilweise offensichtlich auch noch unter massiver Einflussnahme der Politik aus allen Richtungen.
Da dies alles mehr als erschreckend ist - aber offensichtlich ein Zeichen unserer Zeit zu sein scheint -, meine ich, dass es sich durchaus lohnt, darüber zu berichten, worum es tatsächlich geht, mit dem sich an schließenden Ausblick, was wohl alles noch auf uns zukommt. Dabei möchte ich jeweils kurz eingehen auf
- die grundsätzlichen Voraussetzungen einer außerordentlichen Kündigung eines
Anstellungsverhältnisses als solcher
- die Voraussetzungen einer außerordentlichen Kündigung in Zusammenhang mit
geringfügigen Gegenständen
- aktuelle Fälle
- den Fall „Emmely" im Detail
- einen Ausblick auf die Zukunft
II. Grundsätzliches zur außerordentlichen Kündigung
1.
Ein Anstellungsverhältnis zwischen einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer kann außerordentlich „fristlos" - also mit sofortiger Wirkung - gekündigt werden, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Von einem solchen wichtigen Grund spricht man, wenn es dem Arbeitgeber unter keinen Umständen zumutbar ist, den Arbeitnehmer auch nur im Rahmen der vertraglichen oder gesetzlichen Kündigungsfrist weiter zu beschäftigen.
Der wichtige Grund wird von der Rechtsprechung in zwei Stufen geprüft:
a)
Zunächst wird untersucht, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund einer fristlosen Kündigung abzugeben.
b)
Sodann wird geprüft, ob unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls sowie unter Abwägung der Interessen beider Vertragsparteien dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist.
c)
Als weitere Voraussetzung normiert § 626 Abs. 2 BGB eine Fristenregelung, dass nämlich die außerordentliche Kündigung innerhalb von zwei Wochen ab Kenntnis des Kündigungsberechtigten erfolgen muss. Dieser Aspekt soll hier nur einmal erwähnt, aber
ansonsten vernachlässigt werden.
2.
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, dass Eigentums- und Vermögensdelikte im Anstellungsverhältnis (z. B. Diebstahl, Betrug, Unterschlagung zum Nachteil des Arbeitgebers) an sich stets als wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung eines Arbeitsverhältnisses geeignet sind.
Natürlich betrifft dies erst einmal Sachverhalte mit erheblichen Volumina. Je höher der Betrag, der beispielsweise unterschlagen wurde, desto nachvollziehbarer werden die Handlungen des Arbeitgebers zum Ausspruch einer fristlosen Kündigung. Unterschlägt ein Buchhalter 500.000,00 €, wird keine Diskussion darüber aufkommen, ob denn eine fristlose Kündigung gerechtfertigt ist oder nicht.
Ein wichtiger Grund zum Ausspruch einer fristlosen Kündigung liegt allerdings auch vor, wenn die rechtswidrigen Verletzungshandlungen nur Gegenstände von geringem Wert betreffen. Es gibt keine wie auch immer geartete Bagatellgrenze im Arbeitsrecht, bei der zu einem Verstoß von vorneherein die Eignung für eine außerordentliche Kündigung abzusprechen wäre.
Dabei kann nicht nur das erwiesene Eigentums- oder Vermögensdelikt einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellen, sondern auch schon der in der Praxis häufig vorkommende schwerwiegende Verdacht einer solchen Verfehlung. Hier gibt der Betroffene z.B. weder einen bestimmten Sachverhalt zu, noch ist dieser völlig unzweifelhaft, beispielsweise der Nachweis eines Diebstahls, der durch Filmmaterial dokumentiert wurde, soweit dies denn überhaupt zulässig ist. Eine Verdachtskündigung ist dann zulässig, wenn sich
- starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen,
- diese Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses
erforderliche Vertrauen zu zerstören
- und der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung
des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer
Gelegenheit zur Stellungnahme zum Vorwurf gegeben hat.
3. Umstände des Einzelfalles und Interessenabwägung
Jede Kündigung, auch eine fristlose Kündigung, erfordert nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Interessenabwägung.
Das Arbeitsverhältnis ist allerdings auch ein Dauerschuldverhältnis. Dies erfordert es, den Blick nicht - wie etwa im Strafrecht - nur in die Vergangenheit zu richten und auf die Schwere des Verstoßes abzustellen. Entscheidend ist vielmehr der Blick in die Zukunft und die Prognose, ob trotz des Verstoßes eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer noch möglich sein wird und diese dem Arbeitgeber auch noch zumutbar ist. Bei Bagatelldelikten ist häufig eine Zusammenarbeit mit dem Arbeitnehmer allein deswegen nicht mehr zumutbar, weil es in der Regel nicht auf die Höhe des Schadens ankommt, sondern der Vertrauensverlust maßgeblich ist.
a) Vertrauensmissbrauch
Bedeutsam ist also, ob der Arbeitnehmer bei der Begehung der Tat seine Stellung im Betrieb und das ihm entgegengebrachte Vertrauen missbraucht hat, und zwar ohne dass dies im Verhältnis Arbeitgeber/Arbeitnehmer heilbar wäre.
b) Verstoß gegen ausdrückliches Verbot
Ein wesentlicher Umstand ist des Weiteren, ob das Verhalten des Arbeitnehmers eindeutig verboten war, z.B. bei vorsätzlicher Falschstempelung von zu vergütenden Anwesenheitszeiten. Entwendet eine Kassiererin Geld aus der Kasse, stellt sich nicht einmal die Frage, ob dies verboten sein könnte. Dies leuchtet jedermann ein.
c) Verhalten nach der Tat
Berücksichtigung findet im Rahmen der Interessenabwägung zudem das Verhalten des Arbeitnehmers nach der Tatbegehung. Räumt er den Pflichtverstoß ein und hilft bei der Sachverhaltsaufklärung, kann dies eher dazu beitragen, verlorengegangenes Vertrauen wiederzugewinnen, als wenn der Arbeitnehmer den Vorwurf beharrlich leugnet und stattdessen den Verdacht auf Unschuldige lenkt.
d) Betriebszugehörigkeit und Alter
Weitere Abwägungsgesichtspunkte sind die Dauer der Betriebszugehörigkeit und das Lebensalter des Arbeitnehmers. Für eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses gehören neben dem Vertrauensverlust häufig aber auch generalpräventive Gesichtspunkte. Der Rest der Belegschaft soll wissen, dass Eigentums- und Vermögensdelikte zum Verlust des Arbeitsplatzes führen und dies unter keinen Umständen geduldet wird.
Wie „richtig" abgewogen wird, obliegt zunächst der Einschätzung des Arbeitgebers, die allerdings später durch die Gerichte im Detail nachgeprüft wird. Hier gibt es dann allerdings manches Mal ein „böses Erwachen" des Arbeitgebers.
III. Aktuelle Entscheidungen zu außerordentlichen Kündigungen bei Geringfügigkeitsdelikten
1. Bienenstichfall
Das Bundesarbeitsgericht hat schon im Jahre 1984 in seiner ihm eigenen Amtssprache entschieden:
„Auch die rechtswidrige und schuldhafte Entwendung einer im Eigentum des Arbeitgebers stehenden Sache von geringem Wert durch den Arbeitnehmer ist an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung abzugeben. Ob ein solches Verhalten ausreicht, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen, hängt von der unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls vorzunehmenden Interessenabwägung ab."
Maßgeblich war hier eine 27jährige, seit etwa drei Jahren im Betrieb beschäftigte Buffetkraft mit einem Monatslohn in Höhe von 1.705,00 DM brutto, die am 29.03.1982 ohne Bezahlung ein Stück Bienenstich-Kuchen im Wert von seinerzeit 1,00 DM aus der Warenauslage nahm und hinter der Bedienungstheke genussvoll verzehrte. Dies führte zur fristlosen Kündigung, die durch alle Instanzen bestätigt wurde und seit Jahrzehnten der Ausgangspunkt für fristlose Kündigungen wegen Bagatelldelikten ist.
Das Bundesarbeitsgericht hatte seinerzeit ausgeführt, dass die Buffetkraft nicht nur durch den Verzehr des Kuchenstücks ohne Bezahlung rechtswidrig das Eigentum der Beklagten verletzt hat, sondern dass eine „strafrechtliche Relevanz" vorliegt, welche bei den Gesamtumständen des Falles auf fehlendes Unrechtsbewusstsein der Klägerin schließen lässt. Das Bundesarbeitsgericht hat hierzu also ausgeführt, dass das Vertrauen des Arbeitgebers in die Redlichkeit des Arbeitnehmers unwiederbringlich erschüttert ist.
Also lassen Sie mich den Bienenstichfall wie folgt zusammenfassen:
Ein Kiosk, ein in der Sonne brutzelnder Kuchen, Heißhunger, längerer Zweifel und Zurückhaltung der Angestellten, dann - der Zugriff auf das letzte Stück Bienenstich, drei genussvolle Bisse, danach Eintreten eines Sättigungsgefühls, Entspannung und danach Abrechnung der Kasse, ohne den Kuchen zu bezahlen. Später dann der Schock: Die fristlose Kündigung. Alle Instanzen, zuletzt das Bundesarbeitsgericht, gehen von einem fehlenden Unrechtsbewusstsein aus und bestätigen die fristlose Kündigung.
Die Klägerin hatte eingeräumt, sich eines strafbaren Diebstahls von 1,00 DM (heute 0,50 EURO) schuldig gemacht zu haben. Da es sich um eine Störung im Vertrauensbereich handeln würde, wäre - nach der Rechtsprechung - ein Warnschuss in Form einer vorherigen Abmahnung nur dann erforderlich gewesen, wenn der Arbeitnehmer mit vertretbaren Gründen - etwa aufgrund einer unklaren Regelung oder Anweisung - annehmen konnte, sein Verhalten sei nicht vertragswidrig oder werde vom Arbeitgeber zumindest nicht als ein erhebliches, den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdendes Fehlverhalten angesehen.
Das war die unzweifelhafte Rechtsprechung aller Instanzen seit 26 Jahren nach dem Motto „Wer klaut, fliegt raus". Der Wert der Sache war/ist (?) unerheblich.
2.
Im Laufe der Jahrzehnte sind vergleichbare Fälle wegen der Entwendung von Zigarettenpäckchen, Lippenstiften, unverkäuflichen Miniflaschen, Schrottmitnahme, Arbeitszeit- und Spesenbetrug ergangen und weit überwiegend mit einer fristlosen Kündigung sanktioniert worden, die höchstrichterlich auch im Wesentlichen bestätigt wurden. Wie sagte noch vor Kurzem die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Frau Ingrid Schmidt, in der Süddeutschen Zeitung sinngemäß: „Betrügen im Arbeitsverhältnis darf nicht sanktionslos bleiben". Genau! Das wird allerdings offensichtlich nicht überall gleichermaßen gesehen.
3. Neuere Fälle
Warum in dieser Frage das Rad nun offensichtlich noch einmal neu erfunden werden soll, kann nur vermutet werden und unterliegt sicherlich der Spekulation, liegt aber eigentlich auf der Hand.
Es sind meines Erachtens völlig andere Sachverhalte, die die Entscheidung mit getragen haben. Die allgemeine Stimmung in der Bevölkerung geht offensichtlich auch am Gericht nicht vorbei.
Durch hohe Abfindungssummen gegenüber Vorständen oder Geschäftsführern auch nach nachgewiesenen Fehlverhalten, durch die Diskussion von angemessenem Verdienst in unterschiedlichen Positionen, durch die Wirtschaftskrise oder/und durch das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Sozialhilfeempfängern und den teilweise veröffentlichten Gehältern von Höchstverdienern ist ein Sprengstoff entstanden, dessen Auswirkungen für die Zukunft noch gar nicht abgesehen werden können. Ganz zweifelsfrei liegt dies teilweise auch an völlig unsensiblen und unverantwortlichen Handlungsweisen von Verantwortungsträgern, die aber - dies muss immer wieder herausgehoben werden - die absolute, aber völlig unrühmliche Ausnahme darstellen. Nur, es gibt sie eben, und dies ist schlimm genug. Auf jeden Fall ist in der Öffentlichkeit sowie aber auch bei einigen Printmedien und Fernsehsendern auch über Talksendungen ein Wettkampf entstanden, teilweise undifferenziert aber offenbar teilweise auch mit klarer Zielrichtung, in die Gesellschaft eine Negativstimmung einzubringen. Nochmals: Dies ist nicht nur die Schuld sensationslüsterner Reporter und geschulter anheizender Politiker, sondern auch von einigen wenigen „sogenannten" Managern, die sich nicht so verhalten, wie sie sich verhalten sollten und müssten, die es eben auch gibt. Wie man diese vorhandene allgemeine Stimmung allerdings nicht weiter aufheizt, sondern wieder zur Beruhigung bringen kann, wird ein weiteres großes Problem von herausragenden Persönlichkeiten oder aber Politikern der großen demokratischen Parteien sein, die allesamt miteinander derzeit aber andere Probleme zu haben scheinen.
In dem vorgenannten Umfeld blühten z.B. Fälle von fristlosen Kündigungen gegenüber einer Altenpflegerin, die sechs, ansonsten auf dem Müll landende „Maultaschen" aus dem Altenheim mitgenommen hat, einer Sekretärin, die Frikadellen und zwei Brötchenhälften von dem für eine Chefsitzung vorbereiteten Buffet ungefragt und unbezahlt inhaliert hatte, sowie vom entwendeten Aufstrich einer im Fremdeigentum befindlichen Hirtenpastete. Lassen Sie uns nicht darüber streiten, ob diese Fälle tatsächlich geeignet sind, eine fristlose Kündigung eines Arbeitsverhältnisses auszusprechen. Dies ist ein Thema für sich und ich will das Gesamtproblem damit nicht verwässern.
4. „Emmely"
Befassen möchte ich mich mit der Fallgestaltung, die die Republik offensichtlich völlig aus den Fugen gebracht hat: Die Bild-Zeitung hat sich über Wochen mit der Problematik eingehend beschäftigt. Die Kassiererin Emmely - richtig Barbara Emme - langfristig beschäftigt bei Kaisers/Tengelmann in Berlin als Kassiererin.
Das Ergebnis der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Potsdam und später des Bundesarbeitsgerichts wird zwar überall diskutiert, der tatsächliche Sachverhalt ist allerdings den wenigsten bekannt, so dass ich hierauf nunmehr wie folgt eingehen möchte:
a) Sachverhalt
Vorgeworfen wird Emmely nach mehr als 30 Jahren Betriebszugehörigkeit im Lebensalter von 50, dass sie zwei ihr nicht gehörende Leergutbons aus einer Lebensmittelfilialkette im Wert von insgesamt 1,30 € bei einem Einkauf zum eigenen Vorteil eingelöst hat.
In dem zugrunde liegenden Fall war die Klägerin in einer Filiale in Berlin als Verkäuferin mit Kassentätigkeit betraut. In der Filiale, in der sie arbeitete, stand für die Rückgabe von Leergut ein Flaschenautomat bereit. Die dort ausgedruckten Pfandbons werden beim Einlösen durch Kunden an der Kasse von der Kassiererin mit der Hand abgezeichnet und ausgezahlt bzw. bei Einkäufen verrechnet.
Am 12.01.2008 fand ein Kollegin der Klägerin im Kassenbereich zwei noch nicht abgezeichnete Leerbons im Werte von 0,48 € und 0,82 €. Beide Pfandbons trugen das Datum 12.01.2008 und waren zu unterschiedlichen Zeitpunkten am Automaten erstellt worden. Die Zeugin übergab die Bons dem Marktleiter. Dieser gab sie an die Klägerin zur Verwahrung weiter, falls ein Kunde sie für sich reklamieren sollte. Anderenfalls - so war die Anweisung - sollten die Pfandbons später als Fehlbons bei der Leergutabrechnung verbucht werden.
10 Tage später überreichte die Klägerin bei einem eigenen Einkauf in ihrer Filiale nach Ende ihrer Arbeitszeit zwar Leergutbons, die von der Kassiererin im Kassensystem registriert wurden. Diese Bons mit den Werten 0,48 € und 0,82 € reduzierten den von der Klägerin für ihren Einkauf zu zahlenden Preis um 1,30 €. Die Klägerin bestritt allerdings bis zuletzt, dass es sich bei diesen Bons um die am 12.01.2008 gefundenen Leergutbons handelte.
Im Rahmen mehrerer Anhörungsgespräche, die auf Veranlassung der Beklagten durchgeführt wurden, konnte die Klägerin schlussendlich keine nachvollziehbare Begründung für den Besitz der beiden Leergutbons geben. In der ersten Befragung erklärte sie, dass ihre Töchter Zugang zu ihrem Portemonnaie gefunden hätten, was zu dem Besitz dieser Bons geführt haben könnte. In den weiteren Gesprächen benannte die Klägerin sodann eine Kollegin, der sie ihr Portemonnaie gegeben habe, um es in den Spind zu tun. Sie erklärte in diesem Zusammenhang unter anderem, dass die Kollegin die Bons in ihr Portemonnaie getan haben könnte. Die Beklagte konnte nach einer Befragung der anderen Kollegin nicht von der Richtigkeit dieser Behauptung überzeugt werden. Vielmehr blieb für die Beklagte der dringende Verdacht bestehen, dass die Klägerin die am 12.01. gefundenen Leergutbons für sich eingelöst und entgegen der klaren Vorgabe des Arbeitgebers zum eigenen Vorteil verwendet hatte. Sie kündigte deshalb das Arbeitsverhältnis der Klägerin fristlos wegen des Verdachts einer schweren Vertragspflichtverletzung.
b) Das Urteil des Landearbeitsgerichts Berlin-Brandenburg
In einer sehr überzeugend begründeten Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg ist die Klage von Emmely, die es im Verfahren immerhin auf neun verschiedene Tatbestandsvarianten gebracht hatte, die sich im Ergebnis alle als unwahr herausgestellt hatten, abgewiesen worden.
Zunächst einmal hat das Gericht - angelehnt an den Bienenstichfall - festgestellt, dass ein zu Lasten des Arbeitgebers begangenes Vermögensdelikt regelmäßig geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen, da der Arbeitnehmer damit seine arbeitsvertragliche Rücksichtnahmepflicht schwerwiegend verletzt und das in ihn gesetzte Vertrauen in erheblicher Weise missbraucht hat.
Dies gelte auch dann, wenn die rechtswidrige Verletzungshandlung nur Sachen von geringem Wert betreffe. Es verstehe sich, dass das Eigentum des Arbeitgebers auch nicht zu einem Bruchteil zur Disposition der bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer stehen könne.
Erst die Würdigung, ob dem Arbeitgeber deshalb die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist bzw. der vertragsgemäßen Beendigung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht zuzumuten sei, könne zu der Feststellung der Nichtberechtigung der außerordentlichen Kündigung führen.
In Übereinstimmung mit der seinerzeit ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg davon ausgegangen, dass starke Verdachtsmomente vorliegen würden, dass das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen unwiderruflich zerstört worden ist.
Im Rahmen der durchgeführten Beweisaufnahme hat die Kammer auch festgestellt, dass die Klägerin die beiden Leergutbons vom 12.01.2008 mit den Werten 0,48 € und 0,82 € eingelöst hatte.
Eine Abmahnung (der letzte Warnschuss!) war aus Sicht des Landesarbeitsgerichts nicht erforderlich, da eine Wiederherstellung des für ein Arbeitsverhältnis notwendigen Vertrauens nicht erwartet werden könne. Hierzu ist ausgeführt worden, dass die Klägerin seit Jahren Kassiererin war, sie vom korrekten Umgang mit Geld und Bons wusste und darüber informiert war, dass der Arbeitgeber es als schwerwiegende Pflichtverletzung ansehen würde, wenn sie denn auch bei geringen Beträgen „in die Kasse" oder die Kassenabrechnung zum eigenen Vorteil greifen würde.
Der Arbeitgeber müsse sich darauf verlassen dürfen, dass sich die bei ihm beschäftigten Kassierer, denen Geld und Ware anvertraut wird, diesbezüglich stets korrekt verhielten und es auch nicht bei kleineren Beträgen zu Unregelmäßigkeiten zu seinen Lasten kommen dürfe.
Erschwerend hat das Landearbeitsgericht berücksichtigt, dass die Klägerin nicht nur das Einlösen der Bons beharrlich geleugnet und Dritte als mögliche Quelle für die Leergutbons benannt hatte, sondern dass die Klägerin auch mehrfach versucht hat, den Verdacht auf andere Mitarbeiter abzuwälzen. Dies alles macht es nach dem Urteil des Landearbeitsgerichts der Beklagten unzumutbar, das Arbeitsverhältnis auch nur einen einzigen Tag fortzusetzen.
Die Klägerin hat gegen das Urteil Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, die durch das Bundesarbeitsgericht im Juli 2009 angenommen wurde. Dieses Rechtsmittel gehört zum allgemeinen Bereich der Revision und ermöglicht nicht eine tatsächliche, sondern nur eine rechtliche Nachprüfung. Der von der II. Instanz festgestellte Tatbestand musste also vom Bundesarbeitsgericht als zutreffend durch das Landesarbeitsgericht ermittelt unterstellt werden.
c) Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 28.07.2009 / Pressemitteilung
Das Bundesarbeitsgericht hat in der bislang nur vorliegenden Pressemitteilung - das ausformulierte Urteil lässt noch auf sich warten - zunächst einmal festgestellt, dass die Schwere des Vertragsverstoßes den Kernbereich der Arbeitsaufgaben einer Kassiererin betrifft und die Kassiererin damit trotz des geringen Werts des Pfandbons das Vertrauensverhältnis der Parteien objektiv erheblich belastet hat.
Des Weiteren hat das Bundesarbeitsgericht ausgeführt, dass letztlich endscheidend die fehlerhafte Interessenabwägung des vorinstanzlichen Gerichts war und nicht genügend gewürdigt worden sei, dass Emmely drei Jahrzehnte lang ohne jegliche relevante Störung beschäftigt war und sich damit ein hohes Maß an Vertrauen erworben hat. Dieses „Vertrauenskapital" könne durch den in vieler Hinsicht atypischen und einmaligen Kündigungssachverhalt nicht vollständig zerstört werden. Im Rahmen der Abwägung sei auch auf die vergleichsweise geringfügige wirtschaftliche Schädigung der Beklagten Bezug zu nehmen, so dass eine Abmahnung (also die „deutliche Warnung" vor einem Ausspruch einer Kündigung) als milderes Mittel gegenüber einer Kündigung angemessen und ausreichend gewesen wäre, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken.
d) Auswirkung im Gerichtssaal, bei der Presse und in der Politik
- Im Sitzungssaal des Bundesarbeitsgerichts brach nach der Begründung Applaus und Jubel
aus. Das Gericht ließ das Publikum gewähren, obwohl Applaus nach Predigten,
Begründungen von Gerichtsurteilen und Flugzeuglandungen eher als unangemessen
anzusehen ist.
- Zuvor hatte eine Gewerkschaft ein Komitee „Solidarität mit Emmely" gebildet, einen
Internetauftritt eingerichtet und die erfolgte „konzertierte Aktion" als Sieg gegen die
„alltäglichen Gewalttaten des Kapitalismus" gefeiert.
- Kunden wurden bundesweit zum Boykott der Kaiser/Tegelmann-Filialen aufgerufen.
- Solidaritätskomitees brachten Petitionen in den Petitionsausschuss des Deutschen
Bundestages ein.
- Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse hatte sich dahingehend
geäußert, dass er dankbar sei, dass das „barbarische Urteil" des Landesarbeitsgerichts
aufgehoben wurde, welches eine „asoziale Qualität gehabt habe, die das Vertrauen in die
Demokratie zerstört hätte".
- Arbeitsministerin Ursula von der Leyen lobte das Emmely-Urteil des Bundesarbeitsgerichts
mit den Worten: „Die Gerechtigkeit hat gesiegt. Es entspricht dem tiefen
Gerechtigkeitsempfinden, dass ein einmaliger kleiner Verstoß nicht automatisch mit voller
Härte bestraft werden darf".
- Wissen sollte man, dass vor dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts die
Oppositionsfraktionen des Deutschen Bundestages im Frühjahr des Jahres 2010
Gesetzesentwürfe zur Regulierung des Kündigungsschutzes eingebracht haben, wobei der
Gesetzesentwurf der Linksfraktion vorsieht, Kündigungen in Bagatellfällen überhaupt nur
noch nach vorheriger Abmahnung zuzulassen und Verdachtskündigungen generell zu
verbieten. Die SPD hat einen Gesetzesentwurf eingebracht, dass verhaltensbedingte
Kündigungen nur noch nach vorhergehender Abmahnung möglich sein sollen.
IV. Bewertung
Nochmals: Das schriftliche Urteil des Bundesarbeitsgerichts liegt noch nicht vor, sondern erst eine umfangreichere Presseerklärung aus Erfurt. Alle Bewertungen müssen somit unter dem Vorbehalt der Formulierung des Urteils vorgenommen werden unter Berücksichtigung der Schlussfolgerungen, die die Pressemitteilung ermöglicht.
Der II. Senat hat nach der Pressemitteilung ausgeführt, dass grundsätzlich der Vertragsverstoß einer Kassiererin schwerwiegend sei, dass sie sich den Wert von Pfandbons selbst einsteckt und dass damit das Vertrauensverhältnis der Parteien „objektiv erheblich belastet" sei. Da Emmely allerdings drei Jahrzehnte ohne rechtlich relevante Störung im Betrieb beschäftigt war, habe sie sich ein hohes Maß an Vertrauen erworben, was nicht „vollständig zerstört werden" konnte. Eine Abmahnung sei als milderes Mittel gegenüber einer Kündigung angemessen und ausreichend gewesen, um künftig wieder einen störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken.
Obwohl die Klägerin neun verschiedene Tatbestandsfassungen in den Prozess einbrachte, die sich allesamt als falsch herausstellten, führt das Bundesarbeitsgericht aus, dass ein solches Prozessverhalten nicht zu Lasten von Emmely gehen könne. Dies müsse bei der Interessenabwägung unberücksichtigt bleiben. Vielmehr lasse ein solches Prozessverhalten keine Rückschlüsse auf eine vertragsrelevante Unzuverlässigkeit zu und „erschöpfe sich in einer möglicherweise ungeschickten und widersprüchlichen Verteidigung". Auch dieses Argument überrascht in extremster Weise, da es doch im Zivilprozess die Wahrheitspflicht der Parteien gibt und eine Lüge einer der Parteien schnell zum Straftatbestand des Prozessbetruges führen kann. Hat oder/und wollte dies das Bundesarbeitsgericht nicht sehen? Das kann doch nicht sein!
Wo liegt denn der Unterschied zwischen dem Bienenstichfall und Emmely? Auf der einen Seite eine jüngere, erst wenige Jahre im Betrieb beschäftigte Buffetkraft, deren Heißhunger zu verheerenden Folgen führt, auf der anderen Seite eine ältere, sehr viel länger in dem Betrieb beschäftigte, erfahrene Kassiererin, die in den Kernbereich ihrer Tätigkeit eingreift, indem sie ihr nicht gehörendes Geld mit Einkäufen verrechnet.
Einerseits sagt das Bundesarbeitsgericht, dass auch bei Bagatelldelikten nach wie vor eine fristlose Kündigung möglich ist. Andererseits tritt das Bundesarbeitsgericht mit dem Inhalt seiner Presseerklärung den „leisen Rückzug" von seiner bisher konsequenten und auch dogmatisch überzeugenden Linie bei Kündigungen wegen Bagatelldiebstählen an. Hätte das Bundesarbeitsgericht eine Korrektur seiner jahrzehntelangen Rechtsprechung vornehmen wollen, hätte es hierzu genügend Kritik und Anlässe in der Vergangenheit gegeben. Warum nimmt das Bundearbeitsgericht einen Fall wie „Emmely" zur Revision an? Emmely, eine Kassiererin, die ihr anvertraute Pfandbons nutzt, um sie für sich einzulösen, sich nach Aufdeckung der Tat in immer mehr Unwahrheiten verstrickt und sogar andere der Tat bezichtigt, hat keinen Vertrauensvorrat. Der Vertrauensbruch ist hier vielmehr, wie in wenigen anderen Fällen, quasi greifbar.
Die FAZ schrieb in ihrer Ausgabe vom 12. Juni 2010 im Leitartikel meines Erachtens völlig zu Recht:
„Angesichts dieser Umstände müssen sich die obersten Arbeitsrichter fragen lassen, ob sie Arbeitnehmern mit ihrem allzu großzügigen Urteil im konkreten Fall nicht einen Freifahrschein, wenn nicht zum Diebstahl, dann doch zur knallharten Lüge, geben. Dieser Freifahrschein zur Lüge ist bei einer Begründung, die fast ausschließlich um die Frage des Vertrauens kreist, geradezu fatal". Zitat Ende.
Wie sollen denn Urteile über eine sog. „Bagatellstraftat" künftig zu fällen sein? Wer 30 Arbeitsjahre arbeitet, darf einmal (vielleicht auch zweimal) zugreifen? Soll nur eine ungerechtfertigte Einlösung eines Pfandbons zur Abmahnung führen oder auch der entwendete Müsliriegel, wohlmöglich erst die Flasche Sekt? Muss unterschieden werden zwischen Rotkäppchen und Champagner? Was ist mit Teilzeit- oder geringfügigen oder mit befristeten Arbeitsverhältnissen? Gelten für solche Beschäftigten strengere Regeln oder darf der Arbeitnehmer hier eher zugreifen als eine Vollzeitkraft, und wenn ja, warum? Ist nicht Vertrauen, um das es ja ausschließlich geht, zumindest auch eine Frage der eigenen subjektiven Einschätzung des Arbeitgebers und muss es hierbei nicht auch bleiben? Wie kommt das Bundesarbeitsgericht im Gegensatz zum Bienenstichfall dazu, bei Emmely davon auszugehen, dass das Vertrauen durch das festgestellte Fehlverhalten „nicht restlos zerstört werden konnte" (warum und mit welcher Begründung?) und inwieweit obliegt eine solche Wertungsfrage überhaupt dem uneingeschränkten Prüfungsrecht des Revisionsgerichts, das ausschließlich Rechtsfragen zu klären hat? Gerade eine Kassiererin, die ein Vermögensdelikt begeht, greift doch in so besonderer Weise in den Kernbereich des Arbeitsverhältnisses ein, und zwar in sehr viel deutlicherer Art und Weise als eine Buffetkraft, die aus reiner Lust oder Hunger in ein von ihr nicht bezahltes Stück Bienenstich beißt.
Es macht nachdenklich, wenn man Stimmen hört, die ausführen, dass man zumindest nicht ausschließen kann, dass auch externe Einflüsse eine an sich funktionierende Rechtsprechung beeindrucken können. Ich halte Äußerungen dieser Art, auch aufgrund meiner langjährigen Erfahrung, für nicht angemessen, weil man den vielen Richtern in den unterschiedlichen Instanzen einfach nicht gerecht wird. Dennoch brauchen wir Beständigkeit und Verlässlichkeit in der Rechtsprechung, die schon in der Vergangenheit in Teilbereichen zu wenig geprägt wurde, aber zumindest in der Zukunft ohne „Wenn und Aber" von allen zu verteidigen ist. Jeder andere Weg würde meines Erachtens die Justiz als Ganzes nachhaltig schädigen.
Thomas Lemke